von innen

Hochschwappende See


Seit gestern finde ich mich wieder – sitzend auf diesem Steg meiner See.

Dieser exponierte Platz, der hinaus reicht in das Tosende meiner Gewässer. Ich sehe mich gerade noch am Ufer spazierend, mit dem Genuss der sanften Meeresbrise im Haar – mit dem Duft nach Zuversicht und Frieden. Und dann zieht eine Wetterfront auf.
Die Stimmung schlägt um und der Wind weht härter. Nun halte ich meine Haare, um mir nicht die Sicht zu rauben.
Diesen Steg kenne ich, in all seinen Facetten. Heute bläst mir die raue Luft bin an die Knochen. Ich hab mich entschlossen es einfach auszusitzen, es durchziehen zu lassen und mich wärmer einzupacken. Da sehe ich sie wieder, meine Sehnsucht, von der Tiefe hinauf zur Oberfläche steigen – wie ein Tiefseetierchen. Sie mehr zu spüren als sie überhaupt zu sehen. Aber zu wissen – sie ist da. Gedanken, die umherziehen wie heimatlose Vögel – auf der Suche nach einem Unterschlupf, bis zum Zeitpunkt danach. Nach dem Sturm.
Ich atme ein und aus, und ein und aus. Die Luft ist nasskalt. Perlen bleiben an meiner Haut kleben. Beinahe so, als wollten sie mich streicheln, mich halten. Und wenn ich mich nur richtig hingebe, dem was gerade ist, wie es ist, kann ich meine Augen schließen.

„Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will.“ Rainer Maria Rilke

Ich höre den Wind, der Wellen hochpeitscht und dadurch einen Rhythmus anschlägt. Zeitgleich zu den Momenten, in denen das Wasser gegen meinen Holzsteg kracht.

Der Steg ist schnörckellos, das Holz schon angewittert und grau, sehr unscheinbar aber stabil. Ich vertraue ihm. Seine Pfosten sind robust und fest. Darum sitze ich hier, in Mitten alle dem, fühle mich vereint mit ihm – verankert und getragen. Und die Sehnsucht jault mir ins Ohr, nicht aufdringlich aber unüberhörbar. „Ja mein Liebes – du bist da! Ich kämpfe nicht mehr gegen dich. Du trägst mir bloß eine Ahnung von den tiefsten Stellen meiner See herauf.“ Und in dem Moment wo ich das denke, entspannt sich etwas in mir. Ja mein Wasser ist tief und auch meine Möglichkeit daraus zu schöpfen. Ich akzeptiere die gefühlte Rauheit für den Moment und lausche mit offenen Ohren.

„Es bleibt keine andere Möglichkeit, als sich des Schmerzes, der Furcht, der Langeweile oder des Kummers ebenso vollkommen gewahr zu sein, wie der Freude. Der menschliche Organismus besitzt die großartigsten Kräfte, sich sowohl physisch als auch psychisch Schmerzen anzupassen. Aber dies kann nur voll zur Auswirkung kommen, wenn man Schmerz nicht ständig durch innere Anstrengung, sich seiner zu entledigen, wieder entfacht. Diese Anstrengung erzeugt einen Zustand der Spannung, in der der Schmerz erst recht gedeiht. Wenn Spannung aber nachlässt, fangen Geist und Körper an, den Schmerz so zu absorbieren wie das Wasser einen Schlag oder Schnitt.“ Alan Watts

Da beginnt der Wind für mich zu singen. Eine Melodie setzt sich auf den Rhythmus der Wellen und plötzlich erkenne ich mich, als Zuhörer eines berauschenden Orchesters. Ich gebe mich den Klängen hin. Jede Zelle in mir beginnt die Melodie zu atmen. Und dann setzt die Sehnsucht ein und singt dazu.

Und da erkenne ich die Stimme – die Stimme der Liebe. Und die sehnsüchtige Stimme wandelt sich in eine suchende. Sie sucht mich. Sie sieht mich an und singt mir sanft ins Ohr: „Wir sind eins. Wir sind Liebe und auch hinter der Trauer steht die Liebe. Werte sie nicht ab. Lass dich tragen und beklingen. Du bist schon ganz. Sei einfach hier.“

Mein Herz fängt nun an heftiger zu schlagen und wird eins mit dem Rhythmus des Wassers. Ich bin da. Ganz hier. Auch in der Rohheit steckt die Liebe. Sie ist nur ein Kind von ihr und zusammen mit der Sanftheit ist sie die Fülle. Was wäre die Sanfheit ohne Rohheit – kann sie denn erst durch sie in ihrer Klarheit erstrahlen.

Ich stehe auf vom Steg und gehe den Strand entlang.

Die Wolken lüften sich.

Ich bewege mich weiter in der endlosen Landschaft meiner selbst. Ich ahne: Es gibt noch vieles, das mich ruft. Und all das ist. Das Wetter, die See, der Strand, die Klippen… alles kann ich in mir finden.

Stell dich hinein, von Aussen in dein Innerstes, um dort zu schauen und zu lauschen mit allen Sinnen.

Ich wünsche dir viel Spaß, auf deiner ganz persönlichen Reise durch deine Seelenlandschaften, um dich daran zu erinnern: was du in dir selbst schon durchwandert bist, kannst du im Außen furchtlos willkommen heißen.

Mögest du, in Zeiten von Sturm und Unwetter, viele solcher Stege in dir finden, die dich tragen und stabilisieren und dich, dich selbst erkennen lassen, sitzend im Auge des Sturms; Angst, Trauer, Sehnsüchte vorbei ziehen lassend, mit der Liebe an der Hand.

 

 

 

9 comments

    1. Das ist das schönste Geschenk für mich! Danke!

  1. Danke lieber Christian!! 🙂

  2. Macht Mut die Dinge anzunehmen wie sie sind und kommen und zu akzeptieren. Sehr angenehm und schön zu lesen! ?

    1. Wie schön! Danke liebe Valea!

  3. Ganz fein, tief und ermutigend –
    echt berührend!
    Danke!

    1. Danke Elger!

  4. Ich mags wie du mit den Metaphern spielst. Hab mich darauf eingelassen und es ist angekommen!
    Danke für diesen wertvollen, „hochschwappenden“ Beitrag!

    1. Danke Elisabeth! …auch fürs Einlassen.

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